Der monumentalste Roman der Menschheitsgeschichte. 7 Bände. 5.300 Seiten. “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” von Marcel Proust gilt als gefeiertes Jahrhundertwerk. Aber hält der Romanzyklus auch was die Kulturgeschichte uns verspricht? Unser Autor Mark Linzenburg nimmt sich 7 Monate Zeit um das Buch in seiner Gesamtheit zu lesen. Einen Band pro Monat. Und wäre diese Aufgabe nicht schon anspruchsvoll genug, ist es uns gelungen, Marcel Proust für 7 exklusive Interviews zu gewinnen. Nie waren die Voraussetzungen besser, dass Werk in seinem Ursprung zu ergründen und zu verstehen. Was ist “À la recherche du temps perdu” wirklich? Kolossale Zeitverschwendung oder fundamentale Lebensbereicherung?
Band 2: “Im Schatten junger Mädchenblüte (“À l’ombre des jeunes filles en fleur”)
Erster Teil: Madame Swann und ihre Welt
Die Handlung spielt in den Jahren 1895 – 1897, der Erzähler ist zu Beginn der Handlung 15 Jahre alt. Wir erhalten Einblicke in den Alltag von Madam Swann (Odette) und ihrem Ehemann, der sich an den, der Ehe geschuldeten, gesellschaftlichen Abstieg gewöhnen muss sowie der außerordentlichen Bemühungen von Madam Swann, einen eigenen Salon und in Konkurrenz zu dem Salon von Madame Verdurin, zu etablieren. Der Erzähler besucht endlich eine Vorstellung der von ihm bewunderten Schauspielerin Berma und lernt den verehrten Schriftsteller Bergotte kennen. Beide “Begegnungen” enden für den Erzähler mit einer gewissen Enttäuschung, die in einer inneren Distanzierung zu der ausübenden Kunst mündet. Marcel verkehrt sehr häufig bei Madame Swann und freundet sich mit deren Tochter Gilberte an, die seine erste große Liebe wird, er sie jedoch im Laufe der Handlung und unter schwierigen inneren Abwägungen verlässt, bevor eine ernsthafte Beziehung entstehen kann. Sein Freund Albert Bloch führt ihn in ein Freudenhaus aus, doch auch diese Erfahrung enttäuscht ihn, statt der feilgebotenen Sexualität reizt ihn allenfalls das Umfeld und die Erscheinung der Damen, die ihm angebotene Rachel behandelt er freundschaftlich. Trotz der Trennung von Gilberte besucht er, nach anfänglichem Zögern, weiterhin Madame Swann, an deren Wertschätzung und Bewunderung kein Abbruch getan wurde.
Zweiter Teil: Ortsnamen. Die Landschaft
Im Sommer 1897 fährt der 17-jährige Marcel mit seiner geliebten Großmutter und der Angestellten Francoise an den am Atlantik gelegenen Küstenort Balbac, wo er für mehrere Monate in dem neu errichteten Grand Hotel lebt. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten und dem ihm typischen Fremdeln taut der kränkliche Erzähler in der neuen Umgebung nach und nach auf, er unternimmt sogar Ausflüge mit dem Automobil und interessiert sich lebhaft für die jungen Frauen oder Arbeiterinnen denen er begegnet, es ihm aber nicht gelingt, geschickt auf sich aufmerksam zu machen. Er freundet sich sogar mit dem weltläufigen und schöngeistigen Robert de Saint-Loup an, um dessen Gunst er eifrig buhlt und dessen Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Ganz besonderes hat es ihm aber die “kleine Schar” junger Mädchen angetan, namentlich Gisèle, Andrée, Rosemonde und Albertine, die er bei einem Strandspaziergang fasziniert beobachtet. Hin- und Her gerissen, welcher der - “in ihrer Blüte stehenden Mädchen” - den Vorzug geben soll, landet er letztendlich und eher zufällig bei Albertine, deren Äußerlichkeit ihm nach einem umständlichen ersten Treffen und unter Hilfe des Malers Elstir noch nicht einmal sonderlich zusagt. Seine dennoch plötzlich und stürmisch erwachte Liebe wird erwidert, seine bedrängende Wollust weist Albertine jedoch zurück, allerdings ohne sich von ihm zu trennen. Enttäuscht wendet sich Marcel den anderen Mädchen zu, ohne aber für eine mit Bestimmtheit Partei zu ergreifen. Der Roman endet mit der trostlosen Abreise aus dem mittlerweile fast vollständig verlassenden Grand Hotel.
Herzlich willkommen, Marcel und vielen Dank für das fortgesetzte Interview, welches sie erlauben uns mit ihnen führen zu dürfen. Wie versprochen habe ich in der vorgegebenen Zeit den zweiten Band ihres Romanzyklus “À la recherche du temps perdu” gelesen, namentlich “À l’ombre des jeunes filles en fleur”, veröffentlicht 1919, also fast genau vor 100 Jahren, gelesen in der von uns bevorzugten deutschen Übersetzung von Rechel-Mertens, mit dem Titel “Im Schatten junger Mädchenblüte”. Viele bekannte Gesichter sind auch im zweiten Teil aufgetaucht, es geht immer mehr in die Tiefe und auch wir wollen heute mit ihnen etwas dezidierter auf die Handlung und Charaktere eingehen, aber zuerst einmal, mit Verlaub, und ganz persönlich, sie sehen müde aus, Marcel.
Sie sind zu spät! Das erste Interview haben wir am 6.7.2018 geführt, heute ist der 24.08.2018, das ist mehr als ein Monat, das sind 48 Tage, ich frage mich wie sie das Schaffen wollen, mit ihrem Ziel, jeden Monat einen Band des Zyklus zu lesen und, noch viel wichtiger, vorbereitet in die Interviews zu gehen.
Es ist Ferienzeit, Marcel, und dann…
… und dann, und dann, ja, ich weiß das auch, ich bin auch betroffen, es ist zu warm, die Hitze schlägt mir auf die Lungen, die Luft ist zu trocken, ich habe Probleme beim Atmen, das Schlafen fällt mir schwer, es fehlt mir an Sommerfrische, mir fehlt Balbec, mir fehlt Françoise, mein Hut ist nicht gebürstet, ich kann das Hotel nicht verlassen, es ist ein Graus und wegen alledem und sie haben ja auch noch Kinder, zwei an der Zahl, wenn ich die Fotografien an der Wand richtig deute, und die Malereien, sind ja wohl hoffentlich auch von ihren Kindern, und ja, es sind Ferien, dass wussten sie aber auch nicht erst seit gestern, Ferien ist Müßiggang, da frage ich mich, ob sie überhaupt Zeit zum Lesen hatten, und dann mit den Kindern, gelesen haben werden sie es schon, das glaube ich ihnen, aber haben sie es auch verstanden, diesmal zumindest, kompliziert ist es ja nicht, es wird ja alles erklärt, aber ein wenig muss man schon zwischen den Zeilen lesen und dann haben sie ja auch recht, dass Buch ist bald 100 Jahre alt und damals waren die Zeilen engmaschiger, nicht so grobschlächtig, jedenfalls erwarte ich zunächst einmal eine Entschuldigung von ihnen.
Pardon, Marcel, selbstverständlich erhalten sie ihr zugesagtes Honorar, ohne Frage, da hatten wir ein kleines organisatorisches Problem, ich habe auch nochmal mit der Buchhaltung gesprochen, ein Zahlendreher bei der Überweisung, möglicherweise, wer weiß das heute schon, mit der ganzen Technik, jedenfalls bitte ich das zu entschuldigen und wir arbeiten an dem Problem und letztlich geht es ja auch um die Kunst und die Freude an ihr, nicht wahr?
Nein, ja, das mit dem Honorar, peinlich, reden wir nicht mehr drüber, es geht mir eher, einzig, um ihr stümperhaftes Gefasel aus dem ersten Interview, das Honorar lassen sie mir bitte kurzfristig mit einem Kurier auf mein Zimmer bringen, heute Abend noch, wenn es recht ist, nein, ich meine ihre dreisten Unterstellungen, schwul, schwul, alles ist schwul bei ihnen, aber “À l’ombre des jeunes filles en fleur”, wenn sie es nicht nur überflogen haben, da wird wohl eine Entschuldigung fällig, was ist der junge Held da hinter den jungen Mädels her, was keimt da für eine Leidenschaft auf, betörend das Ganze, na, ich warte?!
Es gibt keinen Sex im Buch, Marcel....
Sehen sie, das meine ich. Sie lesen falsch.
Gut. Sie spielen auf den “Ringkampf” an, hinter dem Lorbeerhain, auf der Champs-Elysees? Der 15- jährige Marcel und Gilberte? Das tun sie doch, oder?
Er kann lesen, er kann lesen, es kann es doch, ein Wunder!
Da ging was in die Hose, ja, das haben wir verstanden. Allerdings auch erst beim zweiten Lesen.
Nein! Sexualität. Und zwar heterosexuelle Sexualität!
Marcel, also bitte. Da kann man doch nicht von Sexualität reden. Eine harmlose Rauferei zwischen Teenagern...
Teenager! So ein Wort würde ich in 100 Jahren nicht verwenden!
Odette hätte es verwendet. Denn die feiert ja auch “Chrismas”.
Jedenfalls kann man bei einer Balgerei zwischen Heranwachsenden...
… jungen Erwachsenden nicht von Sexualität reden. Dann wäre ja auch jeder feuchte Traum ein Sexualakt im definitorischen Sinne...
Sie wieder, wie primitiv sie sich ausdrücken, das kann man doch schöner sagen, lassen sie mich kurz nachdenken...
… jedenfalls, und vielleicht ist es gar nicht verkehrt, dass, das Thema jetzt bereits zur Sprache kommt, denn aus unserer Sicht, also meiner Sicht, ist der junge Erzähler, Stand 1895/97, mehr haben wir noch nicht erfahren, überhaupt nicht reif genug, meinetwegen auch aufgeklärt genug, die eigene Sexualität in seiner Gesamtheit begriffen zu haben oder überhaupt nur eine Vorstellung davon zu haben, was ihn dabei erwarten könnte. Und, bevor sie es mir gleich wieder vorhalten, ja, der Erzähler hat ein Bordell besucht, sein Freund Bloch hat ihn dazu angestiftet...
… Freund, na ja, unheilvoller Bekannter trifft es eher …
… und es kam dort, sie werden mich jetzt nicht vom Gegenteil überzeugen können, gerade nicht zum Verkehr, Beischlaf oder wie man das damals sonst noch nannte, der Erzähler bleibt da sehr vage, warum es - dazu - nicht kam, es passte wohl nicht, eher ein naives Interesse, aber eben auch nicht mehr, ein soziokulturelles Experiment, meinetwegen und eben ganz anders als Albert Bloch, der selbstbewusste Kompagnon des Erzählers, forsch, eloquent, jüdisch, versnobt, dreist, arrogant, immer auf der Suche nach der nächsten Sprosse, der Leiter, dem Aufstieg.
“Kompagnon”. Das gefällt mir. Das trifft es. Bloch, der Kompagnon. Es wird langsam, mit ihnen. Damit haben sie mir eine Freude bereitet.
Dann lassen sie uns über Bloch reden. Ihr alter Ego?
Apropos. “Im Schatten junger Mädchenblüte” enthält eine, neben vielen anderen freilich, sehr interessante Stelle, wir befinden uns im Salon von Madame Swann, Monsieur de Norpois und der Erzähler tauschen sich zuerst über die Schauspielkunst der Berma aus, welche, dass wissen wir bereits, auf den Erzähler in der Theatervorstellung enttäuschend gewirkt hat, jedenfalls und die Stelle fanden wir sehr interessant, also diskussionswürdig, wechselt das Gespräch zu Bergotte und einer Einschätzung zu seinem Schreibstil und Eleganz, wenn ich mich recht erinnere, bezeichnet Norpois dabei die Prosa Bergottes als “Flötenspiel” …
Das ist nicht ganz richtig. Er bezeichnet Bergotte als Flötenspieler und nicht das Werk als Flötenspiel, das ist ein Unterschied, nicht wahr, das erkennen sie doch, oder?
… jedenfalls wird sinngemäß wiedergegeben, korrigieren sie mich, dass Bergotte, wenn er schreibt, zwar schön klingt, aber nichts zu sagen hat. Also Stil, vor Inhalt. Affektiert, ohne Ziel und Durchschlagskraft. Der Erzähler wiederrum schwärmt von Bergottes Schaffen, einzig der Mensch dahinter, scheint ihm überhaupt nicht mit dem Werk zu harmonieren. Nun muss man nicht Literaturwissenschaft studiert haben, um zu erkennen, dass sie als Autor, ihren eigenen Stil – verzeihen sie mir diesen Ausdruck - “auf die Schippe nehmen” und damit Bezug nehmen auf den durchwachsenden Erfolg und Kritik des ersten Bandes. Gleichzeitig konnten sie nicht wissen, dass der zweite Band ein derartiger Triumph wird und von Kritik und Publikum gleichermaßen euphorisch aufgenommen wird. Hand aufs Herz. Wie sehr haben sie selbst beim Verfassen der Recherche an sich und ihrer Erzählweise gezweifelt?
Nicht eine Sekunde mein Lieber, nicht eine Sekunde. Wissen sie, die Kritik, Kritiker, also kritische Kritiker, mit einem von denen habe ich mich mal duelliert, wussten sie das, so richtig mit Pistolen, zwar haben wir nur in die Luft geschossen, aber ernst war es mir dennoch, damals konnte man sich als zivilisierter Kerl nicht mehr unbetratscht totschießen, obwohl es viele verdient hätten, das können sie mir glauben, jedenfalls, es war ein Witzchen, ich habe es zwischenzeitlich auch mal gestrichen, dann wieder aufgenommen, es ist albern und man macht das nicht, aber es wäre nicht abzusprechen, eine Kritik zu lesen, abwertend freilich, mit eben diesen Worten, denn dann wüsste man, er hätte es nicht gelesen, oder schlimmer noch, einfach nur abgeschrieben, eine “Situation Humoristique”, wahrlich, nicht wahr?
Stimmt eigentlich die Geschichte, dass sie euphorische Kritiken zu ihrem Werk selbst geschrieben haben und gegen Entgelt in Tageszeitungen veröffentlichen lassen haben?
Was soll denn dieser investigative Ton in ihrer Stimme? Das macht doch jeder so. Haben sie mal auf “Amazon” die Kritiken zu Erstveröffentlichungen gelesen? Entweder sind das Verlagsmitarbeiter (“schnoddrig-freches Debüt”), Mutti und Vati (“perfekt geeignet zum Dahinträumen an einen verregneten Sonntag”) und der kleine Bruder (“Geschenk kam super an”) oder der Autor selbst (“Endlich anspruchsvolle Literatur die auch unterhaltsam ist”). Da schreibe ich lieber im Namen eines Kritikers (“Ein kleines Meisterwerk, fast zu leuchtend für das Auge”), das ist die Wahrheit, außerdem kann ich es mir leisten und musste dafür niemand um Geld anbetteln, das wäre verwerflich und niederträchtig, das ist ja wie Geld für das Casino leihen und ich habe auch noch von keinem Kritiker gehört, dass er ein Buch jemals vollständig gelesen hätte, da wird mal drin rumgeblättert, deswegen gibt es Klappentexte, manche Literaturkritiker haben in ihrem gesamten Leben noch nicht ein einziges Buch gelesen, die meisten von denen gehen höchstens mal ins Kino, Theater sowieso nicht, niemand liest mehr, das war auch schon damals so, Lesen ist doch nur Prahlerei.
Die Kunst spielt wieder eine überragende Rolle im Roman, im Teil 1 “Madame Swann und ihre Welt” hauptsächlich die Literatur, von der Berma und der Schauspielerei mal abgesehen, in Teil 2 “Ortsnamen. Die Landschaft” vornehmlich die Malerei. Im ersten Band noch ein Schwerpunkt bei der Architektur. Die "Recherche” ist ja auch die Suche nach den eigenen Talenten und Schwerpunkten, Interessen und Faibles, letztendlich der Berufung, das wollen wir an dieser Stelle auch nicht endlos ausbreiten und diskutieren, denn das ist in den Büchern nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt, hervorragend, natürlich, eine Sache aber, und die ist uns sehr wichtig, brennt uns unter den Nägeln, wir meinen das dieses Thema bislang nur wenig im Zusammenhang mit ihrem Werk besprochen wird, oder zu knapp, dass ist ihre, dass behaupten wir jetzt einfach mal so und sie können mich gerne korrigieren, das ist die Liebe zur Mode, das ist die Wertschätzung, die Faszination für die Garderobe von Menschen, die ein Gespür dafür entwickelt haben, die Kleinigkeiten, die Anstecknadeln, die Säume, die Nähte, die Farben, Materiealien sowieso, als dies betrachten sie, da mache ich jetzt keine Ausnahme zum Erzähler, mit einer Leidenschaft, Akribie, Sinnlichkeit, aber auch zerstörerischer Ablehnung, die man ihnen, und dann kommen wir zu meiner Frage, als Oberflächlichkeit auslegen kann, denn darf ich behaupten, dass der Erzähler, nicht viel eher den Schein liebt, die Kleider, die Toilette, und das Interesse mit jeder abgelegten Schicht, jedem Kleidungsstück, schwindet, verlorengeht, das Nackte, das “zu Persönliche”, sie ekelt?
Das ist interessant. Wissen sie, wenn man unterstellt, dass jeder Künstler, in seinem Schaffen nur ein Abbild seiner Epoche ist …
… Das ist von Egon Friedell. Kulturgeschichte der Neuzeit. Ich liebe diesen Autor.
… jedenfalls hat uns, mir, sich der Gedanke aufgedrängt, die Frage, was ein Marcel Proust, nach dem Ende des Zeitalters der Moderne, der Nachkriegswelt, Verlust der vertrauten Werte und Wohlstand, dem Ende ihrer Welt, für ein Beruf ausgeübt hätte, und erlauben sie mir die Frage selbst zu beantworten, Schriftsteller, nein, nicht in dieser Zeit, zu viele Einschränkungen, Verbote, Gesinnungsjournalie, ich denke da an etwas anderes, wissen sie an wen sie mich erinnern, verblüffend sogar, nicht optisch, nun gut, man weiß es nicht, aber …
Karl Lagerfeld! Karl Lagerfeld! Natürlich! Mode, Fotografie, Malerei, Unverheiratet, Single, Paris, die Mama, Universalgenie, Ausnahmetalent. Also, wieviel Karl Lagerfeld steckt in Marcel Proust?
Sie meinen wie viel Marcel Proust steckt in Karl Lagerfeld? Nein, im Ernst. Ich mag seine Arbeit, sein Auftreten, er ist der Grandseigneur seines Standes. Sie haben Recht, ja, die Mode, das wäre was für mich. Obwohl ich Frauen niemals in Hosen stecken würde. Das ist vulgär. Aber die Stoffe, die Modelle, die Farben, die Gerüche... Ja. Nur das Handwerk daran stört mich. Dafür wäre ich auch zu ungeschickt, ungeduldig. Herausgeber eines Magazins, vielleicht. Ein Jacques de Bascher? Das würde ihnen gefallen, und der sieht mir tatsächlich ähnlich. Es verwundert mich sogar, dass sie mich nicht direkt damit konfrontiert haben. Es wäre die bessere Pointe gewesen. Genug. Möglicherweise wäre ich in der Schule auch von rüpelhaften Sportskanonen drangsaliert worden, sodass ich mir im Alter von 15 Jahren die Adern geöffnet hätte. Man liest ja so viel Schreckliches über ihre Zeit.
“À l’ombre des jeunes filles en fleur - Im Schatten junger Mädchenblüte” gilt als der erfolgreichste Band des Zyklus und hat ihnen zum Durchbruch als Autor verholfen. Was unterscheidet den Roman von den Übrigen?
Bitte. So eine Frage sollten sie einen Autor nicht stellen. Mit einer Antwort würde ich ja einräumen, dass andere Teile weniger gelungen sind. Sie sind der Leser, also beantworten sie die Frage auch selbst. Obwohl sie auch erst 2 Bände gelesen haben. Am besten stellen sie die Frage einfach zurück und beantworten sie am Ende der Interviews. Nächste Frage?
Die Salons des “Fin de Siècle”, die haben es ihnen angetan, auf vielen, vielen Seiten erfährt der Leser, alles über Klatsch und Tratsch der Jahrhundertwende, wenig Politisches, die Dreyfus-Affäre am Rande mal außen vor, obwohl auch da die Übergänge fließend sind, aber was macht den Reiz aus, warum bestand die Notwendigkeit, in Salons zu verkehren, diese miteinander abzuwägen, aufzusteigen, das ganze kommt mir einer Sucht gleich, also keiner körperlichen, aber etwas Zwanghaftes, Cliquenhaftes, verstehen sie?
Sehen sie, wieder eine solche Frage. Wie viele Seiten der Recherche haben sie jetzt gelesen? 1.300 - 1.400? Wir stehen noch am Anfang. Der Erzähler ist gerade 17 alt. Seien sie nicht so aufgeregt. Geben sie ihm noch 4.000 Seiten und einige Jahrzehnte Zeit und dann können wir uns mit dieser Frage ernsthaft auseinandersetzen. Ich bin müde. Sind wir für heute fertig?
Nicht ohne über die “kleine Schar” geredet zu haben!
Ja, ja, die “kleine Schar”. Eine reizende Übersetzung, ganz wundervoll, finden sie nicht auch? “La bande des jeunes filles” im Original. Oder Mädchenbande, wenn man sich nicht viel Mühe geben mag. Aber Schar, dass klingt doch viel passender, das ist ganz große Kunst, deshalb sollte man unbedingt die Übersetzung von Rechel-Mertens lesen und niemanden sonst. Die - nicht ganz saubere - Übersetzung des Titels mag ich ihr da gleich verzeihen, "Im Schatten junger Mädchen in ihrer Blüte" habe ich eigentlich gemeint, sei es drum, Mädchenblüte klingt doch auch ganz hübsch, romantisiert, eben nicht ganz richtig, wegen der fehlenden Assoziation zu einem Baum, oder sich entwickelndem Pflänzchen, dann ergibt das mit dem Schattenwurf, also dem Schatten, "l’ombre", sie verstehen, auch deutlich mehr Sinn, aber man soll ja nicht immer nur meckern und schimpfen, die Frau hat das ganz großartig gemacht, und es soll bloß keiner drauf kommen die neue Übersetzung von dem "Fischer" zu lesen, wissen wie lange der für die Übersetzung benötigt hat, ich sage es ihnen, 8 Jahre und wissen sie auch warum ich weiß das sie schlecht ist, da brauche ich nicht eine Zeile davon zu lesen, denn wer 8 Jahre an der Übersetzung sitzt, der macht das nicht in einem Zuge, der macht das nebenher, nach Feierabend, das sollte man nicht tun, da muss man sich die Zeit nehmen und nicht anderes daneben betreiben, dann schafft man so eine Übersetzung auch in einem Jahr, sie brauchen zum Lesen 7 Monate, einen Monat pro Band, was langsam ist, und selbst das fällt ihnen schwer, aber sie machen ja nebenher auch irgendwas anderes, es ist ja nicht ihr Beruf Bücher zu lesen und Interviews zu führen, dann könnten wir das Interview auch alle 3 Tage führen, denn länger braucht ein erwachsender Mensch nicht um einen Band zu lesen, Übersetzer ist aber ein Beruf und so sollte man den auch betreiben, keine Ahnung womit sie ihr Geld verdienen, mit dem Blog sicherlich nicht, Verzeihung, dass ist nicht böse gemeint, aber wer liest denn sowas, ein Großteil besteht ja auch nur aus Bildern, Fotografien und Überschriftchen, die wohl witzig gemeint sein sollen, aber das ist doch nichts Eigenes, Späßchen machen, ich kann über sowas nicht lachen, lächeln, ja, dass nehmen sie mir aber nicht übel, sie stecken da sicher viel Herzblut rein, das ist ihre Freizeitbeschäftigung, manche gehen Angeln und fangen nie einen Fisch, trotzdem gehen sie wieder hin, jedenfalls ist die Formulierung - “Schar” - ganz großartig, schade das es diesen Begriff so nicht im Französischen gibt, ich hätte ihn sicher verwendet. Vorwärts. Was wollen sie über die kleine Schar wissen. - Schar - Ach. Herrlich. Da wird man gleich ganz munter.
Bevor wir über Albertine reden ….
Na, na, na, na... Was habe ich ihnen schon im ersten Gespräch gesagt? Ich will nicht das sie soviel verraten, sie verplappern sich dann nur.
Aber wir müssen über Albertine Simonet reden!
Dann bitte ganz neutral. Und wichtig: Albertine Simonet schreibt sich mit nur einem “m”, sie haben es aber wie mit zwei "m" ausgesprochen...
… Bevor wir über Albertine S i m o n e t reden, lassen sie uns noch ein paar Worte über, die für uns daneben interessanteste Figur, Andrée verlieren. Zweifelsohne wieder ein alter Ego ihrerseits?
Andrée ist die Älteste und, zweifelsohne, Gescheiteste im Bunde...
… der Schar, der Schar, bitte...
… der Schar, sie selbst mussten noch jung eine Klasse, freilich wegen Erkrankung und nicht wegen der Leistungen, wiederholen, Andrée ist kränklich, wie sie, Andrée schwadroniert gerne über Prüfungsfragen, also bitte Marcel, 95 % der Dialoge haben sie selbst mit Freunden geführt und dann in den Mund gelegt, und dann ist Andrée offenkundig lesbisch …
Jetzt hören sie aber auf! Ich habe sie gewarnt! Ich kann das Interview auch abbrechen! Und zahlen werden sie für alle sieben Gespräche, ganz gleich wie viele wir tatsächlich geführt haben! Dann machen sie Bekanntschaft mit meinen Advokaten, Wölfe sind das, Raubtiere, richtig scharfe Juden, die wollen sie nicht kennenlernen, dass können sie mir glauben.
In dem Moment, als der Erzähler, im Atelier des Malers Elstir seine Albertine kennenlernen soll, dass erste mal in die Augen schauen, aus der Nähe betrachten, sich verlieben …
… wie sie sich schon wieder anhören, das ist doch keine Sprache, “in die Augen schauen”, wer redet denn so, wer schreibt so etwas, das sollten sie lassen, diese Floskeln, gewöhnen sie sich das ab ...
… jedenfalls, um den Gedanken zu beenden, isst der Erzähler, trotz der Erwartung eines ersten Treffens mit einem Mädchen, scheinbar völlig emotionslos, einen Mokka-Eclair, er isst also lieber seinen Mokka-Eclair auf, als ohne weitere Verzögerung, also so schnell wie möglich, seine, möglicherweise, große Liebe, kennenzulernen. Sonderbar, nicht wahr?
Haben sie schon einmal in ihrem Leben einen Mokka-Eclair gegessen?
Ja, also einen Eclair, schon, ja, mit Schokolade überzogen, meine ich, Mokka, eher nicht, nein.
Na, und, hat er ihnen geschmeckt, der Eclair?
Ja, sicher, ich denke schon, aber darum geht es mir, uns, eher weniger. Warum isst der Erzähler erst seinen Eclair auf, warum steht er nicht gleich auf und stellt sich Albertine vor?
Weil es ihm in dem Moment wichtiger erschien, den Mokka-Eclair zu essen.
In der Folge hat der Erzähler, so seine liebe Not, sich an das Äußere von Albertine zu gewöhnen, teilweise erinnert er sich falsch oder nur schlecht an sie, zunächst wird ohnehin den Makeln mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als den positiven Attributen. Keine Liebe auf den ersten Blick, wieder einsetzende Enttäuschung, wie alles auf das sich der Erzähler freut und vorbereitet. Hat der Held, Marcel, also sie, ich weiß, es ist keine Autobiografie, aber autobiografisch schon, haben sie zu hohe Erwartungen, an ihr Umfeld, den Menschen im Allgemeinen, an das Leben?
Ja und Nein. Wissen sie, ein Leberfleck an der falschen Stelle, rote Flecken auf der Haut, diese hektischen Flecken, schlecht frisierte Haare, ja, dass stört mich, das kann, eigentlich gelungene Momente, ruinieren. Nun kann man freilich beides behaupten, Verursacher und Betrachter gleichermaßen die Schuld daran geben, verstehen sie?
Sie gehen aber noch einen Schritt weiter, Marcel. Makel hin oder her, berechtigt oder nicht, aber selbst das derzeit Schöne, das Perfekte, oder, um den Kreis zu schließen, “junge Mädchen in ihrer Blüte”, als das ist während ihrer Betrachtung bereits verschwunden, Körper verfallen in der Vorausschau, verwelken, verwachsen sich, sehen sie, jetzt verstehe ich das mit dem Schatten auch viel besser, danke nochmal, gehen ein, nichts bleibt, nichts war, “es ist alles nichts”, so durften wir sie bereits im ersten Interview zitieren, aber kann dieses Weltverständnis, besser gesagt, muss ein Mensch mit derartigen Verständnis, nicht automatisch scheitern, wenn die objektive Wahrheit, kein Glück erzeugen kann, das Leben erst real ist, wenn es subjektiv, oder auf Metaebene, verfremdet wird, idealisiert ist?
Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben. Auch deswegen. Zumindest teilweise haben sie recht. Ja. In diesem Punkt, ja, da sind Ansätze vorhanden, die nicht grundlegend verkehrt sind, worauf man aufbauen kann, aber auch erst, wenn sie das Scheitern zu schätzen lernen, Enttäuschungen als bereichernd betrachten und auch im Schmerz des Verlustes, eine Sinnhaftigkeit erkennen und die Fehlerhaftigkeit der Zivilisation, als Naturgesetz anerkennen können.
Marcel, jetzt wo sich unsere Zeit dem Ende nähert, möchten wir, ich, mir erlauben, eine kleine Anekdote zu berichten, eine kleine Geschichte, die wir ihnen nicht vorenthalten möchten, es geht, bitte denken sie nicht ich sei verrückt, denn es ist auch etwas witzig und lockert sicherlich die Thematik …
Das hat doch sicherlich Zeit bis zum nächsten Interview, mir brennen bereits die Augen und der Stuhl auf dem ich sitzen muss …
…Es dauert nicht lange, versprochen, ja, das ist fein, es ist aber auch zu witzig, jedenfalls geht es um das im Roman erwähnte und von der “Schar” mit dem Erzähler gespielte “Ringlein, Ringlein, du musst wandern”, es ist zu herrlich, jedenfalls, habe ich in der Redaktion, nach Lektüre der Stelle, es ist ja eigentlich ein Spiel für kleine Kinder, Vorschulalter, aber ich fand die Beschreibung dazu so köstlich und die vielen Feinheiten beim Spielen, die Möglichkeiten zum Kuppeln und Anbändeln und was alleine der Händedruck über Sympathien oder Abneigungen verraten können und wie neckisch das Ringlein versteckt wird und natürlich bei wem, jedenfalls habe ich den Vorschlag gemacht, das Spiel, auch wenn es albern klingt, in der Redaktion zu spielen, und Marcel, sie werden es nicht glauben, aber …
… es hat sich ein Pärchen gefunden!
Es hat sich ein Pärchen gefunden, das glaubt man doch nicht, das ist doch zu herrlich und die beiden haben versichert, und das haben wir in der Redaktion auch so eingeschätzt, denn die beiden waren nur am zanken und streiten, dass man sich vor dem Spiel, nicht ausstehen konnte, dann aber, die Magie und der Zauber, aus den zarten Berührungen übergesprungen sein muss und einer Verabredung, die nächste folgte und wir mittlerweile schon herzhaft unsere Späßchen mit den beiden treiben, wann denn Hochzeit sei und dass man auf der Feier doch unbedingt “Ringlein, Ringlein” spielen müsse und wenn die beiden mal ein Baby adoptieren, dann einen kleinen Marcel oder Albertine, ist das nicht witzig?
Nicht wahr? Und nebenbei bemerkt, auch ein schönes Beispiel dafür, dass ein Marcel Proust, auch 100 Jahre nach Veröffentlichung seiner Werke, Menschen immer noch erreicht, berührt, verbindet. In diesem Sinne verabschieden wir uns, bedanken uns für ihre Zeit und Geduld, wir dürfen wieder freudig erklären, ja, auch der zweite Band ist ein wahrer Genuss, ein Augenschmaus, wir freuen uns bereits auf den dritten Band, das dritte Interview sowieso, Marcel, sie haben wie immer, denn ab heute ist es bereits Tradition, das letzte Wort und wir würden uns freuen wenn sie wieder mit einem Zitat aus dem besprochenen Band aufwarten könnten …