Wenn es Frühling wird und draußen nicht mehr so kalt und schmuddelig ist, fahre ich mit dem Rad zur Arbeit. Dieses Jahr und weil mein Rad über den Winter im Keller stand und auch sonst ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, musste ich die Bremsbeläge tauschen lassen, nur am Vorderrad, denn ich habe eine Rücktrittbremse und ich habe zuletzt eigentlich nur noch diese genutzt, denn wenn ich mal ehrlich bin, war die Vorderbremse schon immer irgendwie kaputt, was ja auch ziemlich gefährlich ist, gerade in Berlin und weshalb ich auch immer ein Helm zum Fahren aufsetzen muss und obwohl ich mir jeden Morgen die Haare föhne und dann eigentlich auch ganz gut aussehe, komme ich wegen dem Helm immer mit platten, verschwitzten Haaren im Büro an, was mir unangenehm ist, denn wenn die Haare erstmal feucht waren, kräuseln sie sich so merkwürdig, dass Volumen ist auch raus und selbst wenn ich sie auf der Toilette im Büro, nochmal kämme, sehen sie nicht mal annähernd so gut aus, wie zuhause, vor dem Losfahren und dem Aufsetzen des Helmes.
Zu Beginn der Strecke fahre ich eigentlich nur bergauf, was anstrengend ist, aber es liegt dann in der Natur der Sache, wieder bergab zu fahren und richtig Spaß macht, weil man ordentlich Tempo draufbekommt, aber eben auch nicht ganz ungefährlich ist, wegen Berlin und der ganzen Verrückten hier. Jedenfalls, und jetzt kommt der interessante Teil der Geschichte, weiß ich, dass ich an einer bestimmten Kreuzung halten muss und ich es noch nie geschafft habe, die Ampel bei Grün zu erreichen, egal ob ich vorher extra schnell oder extra langsam gefahren bin und zu genüge ausprobiert habe, jetzt aber, und darauf kam es mir an, die neue Bremse testen konnte, quasi unter Wettbewerbsbedingungen. Wie immer schlug die Ampel kurz vor meinem Erreichen erst auf Gelb und dann auf Rot und wie immer standen an dem Überweg zahlreiche Fußgänger, deren Glück jetzt mein Pech ist, nämlich selbst Grün zu haben und die Straße zu passieren. Schon von Weitem erkannte ich auch eine Frau mit riesigem Kinderwagen, der war ja nicht zu übersehen, weil ganz in Blau, ein Junge dachte ich mir noch, jedenfalls war ich ziemlich schnell unterwegs, zog die Bremse, erschrak, ein furchtbares Geräusch, widerlich, man kennt das von nassen Bremsen, nur jetzt war es viel schlimmer, ein metallisches Krächzen, Ächzen, ein Müllauto, dass von einem Baukran mit einer rostigen Schere vergewaltigt wird, so laut, so widerwärtig unangenehm, boshaft, bleibe stehen, endlich, Stille. Entsetzte Gesichter. Blicke. Verstört. Dann, plötzlich... Brüllen. Menschliches Schreien. Babygeschrei. Das Kind, das Kind, das Kind ist wach, wachgeworden, das Kind, es brüllt, das Kind, es weint... Vor mir. Das Gesicht der Mutter. Blass. Hilflos. Panisch. Der Mund ist halb geöffnet. Unsere Blicken treffen sich. Meine Kehle schnürt sich zu. Mir friert. "Du Arschloch", höre ich sie flüstern, Tränen schießen in ihre Augen.