Braunschweig, 8:30 Uhr, Industriepark-Nord.
Wir stehen vor dem schmucklosen Dekra-Gebäude,
in dem seit 1972, neben der Hauptuntersuchung, auch die Abgasuntersuchung (AU)
nach § 29 StVZO durchgeführt wird. Wir wollen hören, wie es den
Menschen geht, die vom VW-Abgasskandal unmittelbar betroffen sind. Wir wollen
wissen, wie es den Mitarbeitern geht, die jahrelang der Spielball eines
Weltkonzerns waren, den Angestellten der vielen Prüfstellen im Land, die nichtsahnend
die Erfüllungsgehilfen eines epochalen Betrugssystems wurden, getäuscht und ausgenutzt
von der Gier und dem Größenwahn skrupelloser Manager.
Wir treffen Erwin H.* (Name von
der Redaktion geändert), 58 Jahre, seit 15 Jahren Betriebsleiter, in seinem
grauen fensterlosen Büro. Es riecht nach frisch gebrühtem Bohnenkaffee und Cognac.
Auf dem Schreibtisch stehen penibel aufgestellte Bilder der Enkelkinder, die Kfz-Meister
Urkunde hängt neben dem schlüpfrigen Kalender, mit einer, sich auf einer bunten
Motorhaube rekelnden, barbusigen Frau.
Herr H., vielen Dank für das Interview, das sie uns gewähren. Wie hat
ihre Untersuchungsstelle von dem Abgasskandal erfahren und wie haben ihre
Mitarbeiter die Enthüllungen aufgenommen?
Mit Fassungslosigkeit, das kann
ich ihnen schon vorweg sagen. Von der Sache habe ich Sonntagabend von einem
langjährigen Kollegen erfahren. Ich bekam einen Anruf, der Klaus * (Name von
der Redaktion geändert) war total aufgeregt und stammelte zunächst nur wirres
Zeug, „Lügner, Schweinehunde, alles gelogen, alles umsonst, all die Jahre, ein
verschwendetes Leben“ usw. Erst als ich ihn ein wenig beruhigen konnte und er
mir ungefähr erklären konnte, worum es eigentlich ging, schaltete ich den
Teletext am Fernsehgerät ein. Mir zog es beim Lesen der Schlagzeilen regelrecht
die Füße unter dem Boden weg, meine Frau brachte mir erstmal einen Weinbrand,
obwohl ich seit 20 Jahren nicht mehr trinke. Den hatte ich aber nötig. „Erwin“,
sagte sie, „das ist doch nur Amerika, hier wird schon alles gut sein.“ Nein.
Nichts war gut. Das begriff ich sofort. Wissen sie, die Abgasuntersuchungen
unterscheiden sich in den einzelnen Ländern kaum voneinander, auch die
international verbaute Technik und eingesetzte Elektronik ist im Wesentlichen
gleich. Da ahnte ich schon was in den nächsten Tagen auf uns zukommen wird.
Beschreiben sie uns doch mal den nächsten Morgen in der Prüfstelle. Wie
war die Stimmung bei den Mitarbeitern?
Die meisten Mitarbeiter sind gar
nicht erschienen, darunter auch Klaus. Seine Frau kam gestern vorbei und hat
mir seine Krankschreibung gebracht. Nach dem Telefonat ist er wohl durchgedreht
und hat sich in seinem Bastelschuppen eingeschlossen, was er normalerweise nur
macht, wenn er alleine sein will, nachdenken muss oder Fußball schauen will.
Doch diesmal war es anders, er hat aufgehört zu essen und zu trinken und hat
seit Dienstag auch nicht mehr auf Fragen geantwortet. Seine Frau hat dann einen
Arzt und die Feuerwehr gerufen, die den völlig verwahrlosten und verwirrten
Kerl von seinem Werkzeugschrank geholt haben. Er soll da nackt drauf gekauert
haben, umgeben von zahllosen Luftballons, die er immer wieder apathisch
aufblies und dann durch den Raum zischen ließ. Es muss schrecklich gewesen
sein.
Von den anderen Kollegen erschien
nur der Lehrling, aber auch nur noch bis gestern. Seine Kündigung kam heute
früh mit dem Fax. Von ursprünglich 6 Mitarbeitern, haben jetzt schon 3
gekündigt, der Rest ist krankgeschrieben. Ein Mitarbeiter hat sich überhaupt
noch nicht gemeldet. Den hat die Sache aber auch besonders hart getroffen, sodass
wir uns große Sorgen um ihn machen. Der Udo* (Name von der Redaktion geändert)
war früher nämlich bei Greenpeace und noch früher in der kommunistischen
Partei, der war so ein richtiger Aktivist, Umweltschützer, total couragiert und
hat immer alle damit genervt, endlich auf vegane Ernährung umzustellen. Der
wollte die Welt besser machen, grüner und war immer knallhart zu den Kunden,
bei denen die Abgaswerte nicht gestimmt haben, meist bei den alten Karren. Und
das jetzt Autos, durch ihn auf die Straße geschickt wurden, die dort überhaupt nicht
hingehört hätten... Ich hoffe er meldet sich bald.
Was glauben sie, ist der Skandal um manipulierte Abgaswerte nur auf
Fahrzeuge von VW beschränkt oder gibt es noch weitere schwarze Schafe?
Alle, alle haben da mitgemacht.
Ich bin gestern extra nochmal hunderte Messprotokolle aus verschiedenen Jahren
durchgegangen. Alle Protokolle weisen Auffälligkeiten auf, aber wer hätte das
denn vorher erkennen können? Die unterschiedlichen Autobauer haben größtenteils
Messarmaturen verbaut, die von ein und demselben Hersteller stammen. Ich bereue
aber zutiefst, das will ich an dieser Stelle klar und deutlich sagen, das ich nicht
schon vorher genauer hingeschaut habe. Und ja, vielleicht gab es auch Hinweise.
Einmal, das ist jetzt knapp 4 Jahre her, hat ein ehemaliger Mitarbeiter
versucht, den Namen will ich nicht nennen, nach der Trennung von seiner Frau
und wegen hoher Spielschulden, sich auf der Arbeit, während einer Abgasuntersuchung,
das Leben zu nehmen. Dazu hat er sich mit geschlossenen Fenstern in den Passat
eines Kunden gesetzt und die Abgase in das Wageninnere geleitet. Wie durch ein
Wunder hat er damals überlebt. Heute wissen wir, dass ihn nur der Umstand
gerettet hat, dass er den Dienstlabtop zum Auslesen der Daten an der
Elektronik des Fahrzeuges angeschlossen hatte. So hat der manipulierte Chip
erkannt, dass gerade eine Abgasuntersuchung stattfindet und den
Schadstoffausstoß drastisch reduziert. Der Mitarbeiter wäre heute sonst tot.