Raupenschlag:
Googelt man ihren Namen, fallen Begriffe wie „Jahrtausendkünstler, Universalgenie und Weltaufklärer“. Welche Bezeichnung passt denn ihrer Meinung am besten zu Ai Weiwei?
Ai Weiwei:
(lacht bescheiden, mit tiefer, weicher Stimme)
Alles ein wenig übertrieben. Aber Jahrhundertkünstler ist schon recht.
Raupenschlag:
Wir freuen uns, dass sie uns gebeten haben, ihr neues Projekt vorstellen zu dürfen. Es trägt den Namen Mauerflucht bzw. Mauerfluch, wobei sie durch das Einfügen der Klammer um das kleine „t“ am Wortende, den Betrachter des Kunstwerkes, welches monumentale Ausmaße annehmen wird, aber dazu später, in ihrem Sinne dazu zwingen, bei der Betrachtung des Werkes, selbstreflektiert, eine eigene Entscheidung über das Erlebte zu treffen, der Betrachter mithin selbst zum Kunstwerk wird, als Teil des Arrangements, ist das richtig?
Ai Weiwei:
(geschmeichelt, streichelt sich den Bart)
Ja. Das mit der Klammer funktioniert auch im Chinesischen.
(nimmt einen Zettel und schreibt)
逃生(牆)
Raupenschlag:
Sie haben uns dankenswerter Weise ein Modell mitgebracht (s. Abb. oben links), was uns eine konkrete Vorstellung von dem Projekt vermitteln soll. Wir erkennen eine postapokalyptische, surreal entfremdete Gestalt, möglicherweise die Metapher eines gepeinigten Asiaten oder Chinesen, die Farbe des Modells ist sicherlich nicht zufällig gewählt, welche, entweder die Mauer, gemeint ist die Chinesische Mauer, überwinden will und oder in ihr gefangen ist, ein Spiegel, ein Zerrbild der chinesischen Gesellschaft, die, wo wir auf den Namen des Projektes zurückkommen müssen, ob der tatsächlich messbaren zivilisatorischen Fortschritte, aber wegen dennoch existierender Menschenrechtsverletzungen, Segen und Fluch ist, und bleibt, also auch Flucht und Fluch, deswegen das kleine geklammerte „t“, die Figur darüberhinaus, die Hände scheinbar zum Gebet faltet, was auf eine Religiosität hindeutet, die, weil entrückt und entfremdet, nicht sein darf, verboten ist, unter Strafe steht, aber deutlich Hoffnung schenkt, wieder Fluch und Segen, erneut Flucht notwendig macht, den Sprung über die Mauer, Sinnbild für jahrhundertelange Isolation, aber auch Sicherheit, dann, eine Feder, vielleicht auch ein angedeuteter Schleier, beschmückt den Kopf der Gestalt, das alte China, Symbol für sonderbare Mythen und Einklang mit der Natur, Flucht zur Natur, als möglicher Erlöser?
Ai Weiwei:
(ehrlich erfreut, die Augen werden glasig)
Fast. Nur eine Anmerkung, wenn sie erlauben?
Raupenschlag:
Gerne, Gerne, bitte, weiter, bitte, weiter.
Ai Weiwei:
(fährt gütig fort)
Die Federn sollen Haare symbolisieren. Lange weiße Haare. Viele alte Menschen in China tragen ihre Haare im Alter noch lang. Sie haben lange gewartet, bis die Haare weiß werden. Verstehen sie? Und dann sind sie alt geworden. Und mit ihr die Mauer.
Raupenschlag:
(kurze Pause, der Reporter kämpft mit Tränen der Rührung)
Sie haben uns auch eine Fotomontage mitgebracht (s. Abb. oben rechts), ein Bild, das uns erahnen lässt, welche monumentalen Ausmaße ihr neues Projekt haben wird. Denn, wenn wir sie richtig verstanden haben, haben sie vor, eine Vielzahl der Figuren auf der echten chinesischen Mauer aufzustellen. Und jede Figur wird schätzungsweise eine Größe von 10 bis 12 Meter haben?
Ai Weiwei:
(mit leuchtenden Augen)
Genau 13 Meter in der Höhe. Die Zahl ist in China heilig. Dem alten China. Dem wahren China. Die Figuren, ich nenne sie übrigens „Die gelben Wanderer“, werden auf der gesamten Mauer entlang verteilt aufgestellt. Alle 100 Meter. Insgesamt 211.991,00. Alle Wanderer werden aus Bronze, Elfenbein und Seide gefertigt. In Handarbeit. Ehrliche Arbeit. Von ehrlichen Menschen. Ehrlichen Chinesen. Alten Chinesen. Wahren Chinesen. (strahlt)
Raupenschlag:
Und die Kosten? Wer übernimmt die Finanzierung?
Ai Weiwei:
(lacht, reibt sich den Bauch)
Die Staaten, die mit Mauerfluch(t) was anfangen können.