Raupenschlag Kultur: #Tatort

Mittwoch, 10. Juni 2015


 #Tatort 



Ich weiß, dass ich immer weniger Freunde habe. Das war dann wohl auch der Grund dafür, eine Einladung zum öffentlichen Tatort gucken anzunehmen. Wie mir berichtet wurde, hatte ich mich nach der letzten Pokerrunde mal wieder daneben benommen, ich hatte also etwas gutzumachen. Ich habe noch nie einen Tatort gesehen. Ich habe es vor Jahren mal versucht, aber nicht länger als eine Viertelstunde durchgehalten, bevor ich ehrlich und beschämt weggeschaltet hatte. Durch die Bild-Zeitung weiß ich aber, dass das Format noch erfolgreich im Ersten läuft („Jetzt spricht die hübsche Tatort-Leiche“).

Die speckige Kneipe riecht nach feuchten Jutebeuteln, Mate-Wodka und faulig-süßem Grasgeruch, der aus allen Poren der mit Konzertplakaten beklebten Wände strömt. Ich fühle mich nicht unwohl. Von der Decke hängt ein vollgepisstes Bettlaken, was als Projektionsfläche für den Uralt-Beamer dient und in dem sich sonst wohl der Barkeeper nach Feierabend mit den Gästen suhlt, die das letzte Bier abarbeiten, statt zu zahlen. Der Laden ist gut gefüllt, einige Gesichter kennt man, viele nicht, in der Mehrzahl Studenten, Röhrenjeans und Vollbärte. Über Letzteres rege ich mich nicht mehr auf, erst recht, weil ich mal einen Hipster mit Vollbart und glatt rasiertem Schwanz und Eiern in der Dusche im Schwimmbad gesehen habe. Ich dachte zuerst, da macht einer einen Handstand und streckt mir dabei die Zunge raus. Wir sind zu dritt, der Dicke, der Verheiratete und ich. Freunde aus Schulzeiten, die über die Jahre den Kontakt und die Stadt, die gerade noch Großstadt ist, gehalten haben. Der Verheiratete hat vorab einen Tisch bestellt. Ich bin überrascht und kann mir nicht vorstellen, dass hier jemand Reservierungen entgegennimmt, geschweige denn ans Telefon geht, wenn es klingelt. Bevor wir uns setzen, bestelle ich mir an der Bar einen Wodka-Red Bull und ein Jever aus der Flasche. Macht 9,50 € plus 1 Euro Glaspfand. Der Boden knirscht dennoch beim Gehen. Meine Begleiter trinken Radler oder Wasser, obwohl wir zu Fuß gekommen sind.

Auf dem Weg zu dem Laden haben sie mir noch vorausschauend und zu lang erklärt, dass es eigentlich nicht um den Tatort an sich geht, sondern darum, den Tatort in einer Gemeinschaft zu sehen und dazu live bei Twitter Kommentare zu posten. Das ist „witzig und hat Kultcharakter“, dass machen sie jetzt schon seit ein paar Jahren so. Zuletzt sogar beim ESC. Die Frau des Verheirateten sitzt auch mit ihren Mädels zuhause, auf der Couch, in hoffnungsvoller Erwartung den Mörder als Erste zu entlarven oder sich über die ermittelnden Kommissare zu amüsieren, heute zum Beispiel Thiel und Boerne, was mir nichts sagte, ihn aber belustigte. Jetzt wußte ich endlich, wie die ihre Sonntagabende verbringen, dachte ich mir, während ich durstig den Kotzflecken vor der Kneipe ausgewichen bin, ohne über die schlampig abgestellten Fahrräder zu stolpern.

Am Tisch sitzend bemerkt der Dicke zufrieden, dass es eine hervorragende Idee des Verheirateten war, zum „Münster-Tatort“ einen Platz zu reservieren, da es heute voller ist als sonst. Das Problem kannte ich sonst nur, wenn Bayern spielte. Münster klingt für mich nicht aufregend. Aber die Sopranos spielen ja auch nur in New Jersey und das machte mir Hoffnung. Als wir uns setzen, läuft im Hintergrund noch die Tagesschau, auch lange nicht gesehen, stelle ich beim Betrachten des Studiodesigns und Moderatorin fest. Bei den Sportnachrichten fällt mir wieder ein, dass ich noch ein paar Wetten platzieren wollte und bekomme für einen hohen Sieg von AC Florenz (ohne Gomez in der Startelf) und Niederlage AS Rom (Klose verletzt) eine anständige 6er Quote, welche mir 20 Euro Einsatz wert und dank meinem Handy in 30 Sekunden erledigt ist. Der Dicke und der Verheiratete pusten währenddessen die Aschereste meiner Zigarette vom Tisch und platzieren ihre Smartphones so vor sich, dass sie in Armlänge zu erreichen sind. Der Verheiratete hängt seine Funktionsjacke über die Lehne des viel zu kleinen Stuhls so gekonnt ab, dass Schlüssel, Geld und Ausweis nicht rausfallen können. „Gleich geht`s los“, stupsen sie sich voller Vorfreude an, ihre Stimmen klingen höher als sonst. So aufgeregt habe ich die beiden zuletzt vor dem Halbfinale Deutschland gegen Brasilien gesehen. Der Dicke war mal kräftig, erinnere ich mich. Zu dritt haben wir es mal in einem Auswärtsspiel unserer Mannschaft geschafft, ein Sixpack der Bullen umzukippen. Der stand zwar schon auf Kippe an einem Bordstein und war unbesetzt, trotzdem hat es ganz schön laut geknallt.

Nach der Eingangsmelodie zum Tatort, die mir ungewöhnlich präsent im Ohr ist, bestelle ich mir nach 10 Minuten groteskem Klamauk auf der Leinwand an der kaum besuchten Theke ein zweites Bier und einen Tequila, nach 30 Minuten Tatort ordere ich einen Long Island, gebe das erste Mal Trinkgeld und bleibe am Tresen stehen. In dem Laden herrscht ein beängstigendes, beredtes Schweigen, man merkt, dass die Beteiligten über eine gewisse Routine verfügen und abwechselnd zur Leinwand und auf ihr Handy schauen, wischen oder tippen. Manchmal werden die Telefone für wenige Sekunden dem Nachbarn gereicht, der dann nach Kenntnisnahme irgendeines Inhaltes zustimmend nickt, leise kichert oder den Kopf schüttelt. Im hinteren Teil des Lokals, der Bereich von dem man die Leinwand nicht sehen kann, unterhalten sich kleine, bunte Gruppen flüsternd, sogar die Hunde, die sie dabei haben, liegen artig vor deren Füßen.

„Ich finde den Liefers total toll!“ - „Ja, ich auch. Der spielt den Schwulen richtig gut.“ Neben mir warten zwei circa 20 Jahre alte Mädchen auf ihre Weißweinschorlen, von der die eine, ihren Dutt mit einem Bleistift, die andere mit Trinkhalmen zusammenhält. Die kleinere von Beiden trägt eine weiße Leggins, die ihren Schritt interessant und mit Deutungsmöglichkeiten einschnürt, was ich nur erkennen kann, weil sie ihr zu lang geratendes, kariertes Baumwollhemd, an den vorderen Enden um den Bauch zum Knoten gebunden hat und ich möglicherweise länger hingeschaut habe, als es sich schickt. Ich leere mein Glas in einem Zug, schüttel mich kurz in Anerkennung der Leistung des Barkeepers in dessen Richtung und gehe ohne zu Wanken zum Klo.


„All Cops Are Bastards“ lese ich an einem über dem Urinal aufgeklebten Flyer, ich richte meinen Strahl drauf, schaffe es aber nicht mal über den Rand des Beckens. 

Auto Post Signature